Werkssiedlung Piesteritz

Die Werkssiedlung Piesteritz wurde ganz nach den Idealen der Ende des 19. Jahrhunderts in England entstandenen Gartenstadtbewegung angelegt. Sie diente der Unterbringung der vielen Beschäftigten der damaligen Reichsstickstoffwerke, die 1915 in Folge der englischen Seeblockade im Ersten Weltkrieg entstanden waren, um das Kaiserreich nach dem Ausbleiben des importierten Chilesalpeters in die Lage zu versetzen, eigenständig Kunstdünger herzustellen. Der Bau der Siedlung begann kurz darauf, und die rund 400 Wohnhäuser waren 1919 fertiggestellt.

Der junge Schweizer Architekt Otto Rudolf Salvisberg lieferte die Entwürfe für die Gartenstadt. Der sozialen Hierarchie entsprechend – vom Arbeiter bis zum Betriebsleiter sollten alle angemessenen Wohnraum finden – schuf er sieben unterschiedliche Haustypen mit Wohneinheiten zwischen 50 und 160 Quadratmetern Fläche. Unter den vielen bis in die dreißiger Jahre in Deutschland gebauten Gartenstädten ist Piesteritz unverdientermaßen eher unbekannt geblieben.

Die Piesteritzer Siedlung ist zwar einerseits in vielen Belangen für ihre Zeit wegweisend – so verfügt jede Wohnung über eine Innentoilette und eine fest installiert Badewanne – und auch wegen der großzügigen Raumgestaltung der gesamten Anlage ein städtebauliches Lehrbeispiel, andererseits aber von der Formensprache durchweg traditionsorientiert. Man könnte sie durchaus als Gegenmodell zu den Bauhaussiedlungen im benachbarten Dessau oder gar den späteren Werken von Salvisberg selbst gelten lassen, wie zum Beispiel die Weiße Stadt in Reinickendorf. Erklären lässt sich das vielleicht auch damit, dass an den Planungen für Piesteritz – neben Karl Janisch, dem Hausarchitekten der Bayrischen Stickstoffwerke – auch Paul Schmitthenner beteiligt war, der Architekt der Gartenstadt Staaken, der als Anhänger des Heimatschutzstils und späterer Mitbegründer der Stuttgarter Schule eine klassisch und konservativ geprägte Bauweise vertrat.

Zu den Häusern gehörten auch kleine Gärten, in denen die Bewohner Gemüse und Obst für die Selbstverpflegung anbauen konnten. Mit den Wohnhäusern wurden Gemeinschaftsbauten für die rund 2000 Werksangehörigen errichtet, wie Kirche, Rathaus, Kauf- und Vereinshaus “Feierabend”, das jetzt den Piesteritzer Hof beherbergt, Schule und das Damenheim für die unverheirateten Sekretärinnen.

Die heute unter Denkmalschutz stehende Siedlung, die unzerstört erhalten geblieben ist, wurde in den Jahren 1993-2000 umfassend saniert und präsentiert sich heute in frischem Glanz und im wesentlichen im ursprünglichen Zustand. Auf Anregung der Planer der Sanierung bleiben Autos draußen, so dass sie die größte autofreie Siedlung in Deutschland ist.

Fotos aus dem Nachlass des ehemaligen Direktors der Stickstoffwerke Richard Beneke, die den Zustand der Siedlung in ihren Anfangsjahren zeigen, hat Klaus O.T. Beneke in einem PDF veröffentlicht.

Nachtrag Mai 2019

In der Sendereihe „Der Osten“ produzierte der MDR zum hundertsten Geburtstag der Werkssiedlung Piesteritz den Film Die Gartenstadt Piesteritz – beliebt, begehrt, bedroht, aus dem Auszüge in der MDR-Mediathek zu finden sind.


Werkssiedlung Piesteritz
Karl-Liebknecht-Platz 20, 06886 Lutherstadt Wittenberg

03491 614710

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7 Antworten auf „Werkssiedlung Piesteritz“

  1. Ein wenig erinnern mich diese Häuser und diese Bauweise an die Zechensiedlungen im Ruhrgebiet. Wahrscheinlich steckte nicht das gleiche Prinzip dahinter und doch gab es Gemeinsamkeiten, wie z.B. die kleinen Gärten hinter den Häusern. Diese Bergarbeiterhäuser hatten allerdings keine Toiletten und Badezimmer im Haus, dazu mussten wir um das Haus herum in die Waschküche. Die Zechenhäuser, die saniert wurden, sehe ähnlich schmuck aus. Leider wurde die ganze Häuserzeile meiner Kindheit abgerissen.

  2. Gartenstadt! — Ich war kürzlich in einer Wüstenrotsiedlung (BJ >2000) und muß vergleichend sagen, die Siedlungsarchitektur vor hundert Jahren war menschenfreundlicher. Und sicher besser durchdacht …
    Schöner Bericht.

  3. Die Fassaden stellen einen erfreulichen Zustand der Anlage dar, auch die Außenanlage scheint gut gepflegt zu sein. Schön anzusehen. Dort sollte wohnen Spaß machen, zumal die Wohnungen – wie Du schreibst – teilweise recht großzügig bemessen sind.

  4. Schön, dass Du die Siedlung beschrieben hast. Ich war letztes Jahr im Juli mit meinen beiden Tanten dort, denn die ältere wurde dort 1928 geboren. Sie wollte das Haus sehen, in dem sie die ersten drei Jahre ihrer Kindheit verbracht hat. Leider hatte sie keine genaue Adresse, so sind wir nur so, ohne genaues Ziel, durch die Siedlung gelaufen.
    Schön war’s trotzdem!

  5. Interessant, von dieser Siedlung habe ich noch nie gehört. Anmerken könnte man allerdings, dass Schmitthenner nicht einfach “konservativ” war, sondern NSDAP-Mitglied, und das schon 1933.

  6. Ich habe ja auch nicht Schmitthenner als Person mit dem Attribut “konservativ” belegt, sondern seinen Baustil. Über seine politische Einstellung wollte ich nichts schreiben, da ist der Wikipedia-Artikel über ihn, zu dem ich im Artikel schon verlinkt habe, aufschlussreich genug. Mit “NSDAP-Mitglied gewesen” alleine wird man Schmitthenner – glaube ich – jedenfalls nicht gerecht.

  7. Stimmt, man kann Schmitthenner sicher nicht auf seine NSDAP-Mitgliedschaft reduzieren. Er ist aber ein schönes Beispiel für das Abdriften vieler “konservativer” Architekten gegen Ende der Weimarer Republik ins Nazi-Lager. Schultze-Naumburg war ja eine noch härtere Nummer. Diese Leute haben bereitwillig bei den Nazis mitgemacht und zeigen dadurch das Dilemma von Heimatschutzstil und konservativem Bauen und Gegnerschaft des Bauhauses generell. Das bedeutet natürlich nicht, dass man keine Kritik am Bauhaus hätte üben dürfen.

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